Mittwoch, 15. Juni 2011

42/ Nordindienreise – Zugfahrt der Qualen

Eine Reise ins ferne Nordindien war schon lange unser Ziel. Einige von Martins Klassenkameraden stammen von dort und fragten uns, ob wir Interesse an einer kleinen Rundreise hätten. Sofort sagten wir „ja“, denn mit befreundeten Indern durch das Land zu reisen, ist äußerst vorteilhaft.
Auf meiner Arbeit habe ich nur die Sonntage frei und kann gerade mal einen Tag Urlaub im Monat nehmen. Für eine Nordindienreise viel zu wenig Zeit – deswegen verzichte ich auf mein Gehalt und fahre.

„Die schlimmste Fahrt meines Lebens“ - und der Satz stammt nicht mal von mir, sondern von Kushveen.
Nachts 23.25 Uhr geht es los. Wir haben extra einen Monat vorher die Tickets für ein klimatisiertes Abteil im Wert von 3.240 Rupien bestellt. Im Zug erfahren wir, dass unsere Tickets nicht bestätigt sind und wir auf der Warteliste sind bis Plätze frei werden. Zwei Stunden lang stehen wir mitten in der Nacht zwischen zwei Abteilen. Unsere indischen Freunde versuchen immer wieder mit dem Schaffner zu diskutieren. Vor Goa könne er keine Aussage treffen – das ist 5 Stunden entfernt. Die Stimmung ist auf dem Boden. Martin und ich können nicht verstehen, dass man hier für etwas bezahlt, was man nicht bekommt. 

Schließlich wechseln wir in die völlig überfüllte stickige 3. Klasse. Alles schläft. Martins Klassenkameraden machen es sich auf dem Boden ‚bequem‘. Wir zwängen uns auf ein freies kleines Stückchen harte Kante der Liegen. Hinter mir liegt eine alte Frau, die immer wieder mit den Füßen gegen mich strampelt. Hier kann ich nie und nimmer schlafen. Martin ergibt sich seinem Schicksal und macht es den Indern nach. Er legt sich auf den ekligen indischen Zugboden und versucht zu schlafen. Dabei muss er verschiedenste Gerüche ertragen, wie nackte indische Füße, die immer wieder an/auf ihm vorbei laufen auf ihrem Weg zum ‚Klo‘. Das ist nicht mehr menschenwürdig. Hilflos lassen wir es über uns ergehen. Auch ich versuche zu schlafen. Meist nur für 5-10 Minuten, dann ist mir in meiner extrem unbequemen Sitzposition wieder irgendein Körperteil eingeschlafen, das mich weckt. Ein Teufelskreis. Später in der Nacht bietet mir ein älterer Mann seinen Platz an. Dankbar nehme ich an. Den muss ich mir allerdings mit der fülligen Swati teilen. Wieder gelingt es mir nicht sonderlich im wackelnden Zug zu schlafen. So bekomme ich mit, dass er 2 Stunden lang nicht weiter fährt. Nervenzerreißend, wenn man einfach nur ankommen und hier raus will.
 

Um 6 Uhr kommen wir in Madgoan, Goa an. Die Nacht ist zu Ende – alle wachen oder stehen auf. Nicht immer freiwillig, aber der Boden muss ja wieder begehbar werden. Es folgt eine lautstarke Diskussion zwischen einer Frau, die wahrscheinlich bei so vielen platzlosen Menschen ihre Familie bedroht sieht und anderen, die einfach nur irgendwo sitzen möchten. Ein lauter, dumpfer Aufprall unterbricht sie. Ein Kind ist aus der obersten Liege in mehr als 2 Meter Höhe schlafend herunter gefallen.
Gegen 7 bekomme ich oben eine Liege und endlich die Möglichkeit zum Schlafen. Männer, die laut „Chai“ anbieten und Tunnel, durch die wir geräuschvoll durchbrettern, unterbrechen meine zwei Stunden Schlaf. Bei mir oben funktionieren die Ventilatoren nicht und die Sonne prasselt schon früh um 9 unablässig auf das Zugdach.
Im Umkreis des Klos stinkt es bestialisch, besonders an jedem Bahnhof, da der Hinweis nur während der Fahrt das Loch zu benutzen, gekonnt ignoriert wird. Nach dem Gang aufs ‚Klo‘ stelle ich fest, dass diese Nacht-Tag-Kombination wieder einen anderen Tag in Indien vom ersten Platz des schlimmsten Tages meines Lebens verdrängt hat. Jetzt heißt es einfach nur noch durchhalten, überleben bzw. dahin vegetieren. Durch die glühende Hitze, die schlechte Luft und das eng an eng mit vielen Indern bin ich nicht in der Lage irgendetwas zu tun. Meist verkrieche ich mich oben auf die Liege. Martin hat sich mein Buch „PS. I love you“ geschnappt in Anbetracht fehlender lukrativer Alternativen. 

 

Eine neue Info von unseren indischen Freunden - sie sitzen irgendwo im Zug verteilt: Wir sollen noch bis um 2 aushalten. Denn Mumbai ist unsere Hoffnung, da hoffentlich viele aussteigen. Die Hoffnung war umsonst. Gegen Abend erfahren wir endgültig, dass wir keine Chance haben in das Abteil mit Klimaanlage zu kommen. Zumindest bekommen wir in der dritten Klasse Plätze zum Schlafen zugeteilt. Ich versuche am Laptop einen Film zu schauen, aber die Zuggeräusche sind zu laut, um etwas zu verstehen. Obwohl ich ganz oben liege, hatten sich einige indische Zuschauer zum Mitgucken versammelt. Inder scheinen vom Fernsehen magisch angezogen zu werden.

Relativ früh ist dann Schlafenszeit und die Lichter gehen aus. In der Nacht wache ich auf. Der Zug fährt rasend schnell und rattert über Brücken hinweg. Gedanklich male ich mir schon diverse Unfallszenarien aus.

Den nächsten Tag versuche ich wieder mit viel Schlafen zu überstehen. Ich esse und trinke so wenig wie möglich, um nicht noch mal auf das Klo zu müssen. Das Leben im Zug – eine indische Reality Show live: Familien bereiten auf Zeitungspapier Essenshäufchen. Mülleimer gibt es nicht. Die Abfälle werden entweder direkt aus dem Fenster oder auf den Boden geworfen. Ein kleines indisches Kind guckt mich fasziniert an, einem anderen werden gerade die Fingernägel geschnitten.

Endlich bekommen wir einen Platz am luftigen Fenster. Der Blick hinaus verrät – die Landschaften in Nordindien scheinen karger zu sein. Das saftige Grün der Südwestküste fehlt. Umso näher wir unserem Ziel Delhi kommen, desto mehr Armut beobachten wir am Rande der Schienen. Immer wieder laufen Bettler durch die Zugabteile. Ein Kind mit kaputten glasig blau-weißen Auge erinnert mich an den Film ‚Slumdog Millionaire‘. Eine alte Frau ist besonders stur. Vom Bahnhof draußen versucht sie uns durch die Gitterstäbe des Fensters zu berühren. Als Martin vorsichtig das Fenster schließen will, weicht sie mit ihrem Arm nicht zurück. Bei so vielen Bettlern gleicht es einer Belästigung. Mir lag schon auf der Zunge, dass wir nicht ganz Indien füttern können und dass in Deutschland auch viele arme Menschen leben.



Bei soviel Leben, ist der Tod nicht weit. Ein vertrockneter Kuhkadaver liegt am Straßenrand und ein Hund auf den Gleisen – der abgetrennte Kopf auf der anderen Seite der Schiene.

Nach 41 Stunden Zugfahrt und ca. 2.500 km kommen wir in Delhi an – genauer gesagt im Stadtteil Hazrat Nizamuddin. Die Metropole Delhi schließt mit Neu-Delhi die indische Hauptstadt ein. Mit 12,6 Millionen Einwohnern in der eigentlichen Stadt und 18,7 Millionen im Hauptstadtterritorium ist Delhi nach Mumbai die zweitgrößte Stadt Indiens.
Der wärmste Monat ist hier der Juni – passt ja gut. Wir schlagen uns also bei um die 40° durch.




Am Bahnhof in Delhi


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen