Mittwoch, 22. Juni 2011

45/ Nordindienreise – Zeremonie an der Grenze zu Pakistan


Mit dem Auto fahren wir Richtung Wagah Border. Wagah ist ein Grenzübergang an der Straße zwischen Amritsar, Punjab (Indien) und Lahore, Punjab (Pakistan). An der Grenze wird allabendlich auf beiden Seiten eine von Menschen aus allen Teilen beider Länder besuchte und von deren Schlachtgesängen angefeuerte Militärparade der Grenzsoldaten abgehalten. Die beiden Staaten haben aufgrund historischer oder auch anhaltender Feindseligkeiten wegen Gebietsdisputen ein angespanntes politisches Verhältnis.
Damit wir gute Plätze bekommen, stellen wir uns rechtzeitig an. Die Menschentraube wird immer größer und dichter vor dem geschlossenen Tor. Glühend heiß prasselt die Sonne unerbittlich auf uns herab. Nach wenigen Minuten sind die Körper der aneinander gepressten Menschen klitschnass. Das Gedränge wird immer schlimmer. Meine drei Männer versuchen mich bestmöglich inmitten der vielen fremden männlichen Körper etwas abzuschirmen. Dieses eingepfercht sein wie Tiere erinnert mich wieder an die Zugfahrt. Ich will nur noch weg. Mir sind doch die Plätze egal. Martin klagt über Schwindelgefühl. Es geht beinahe an die körperliche und seelische Grenze.


Nach der längsten dreiviertel Stunde meines Lebens, werden die Tore geöffnet. Zuerst auf der so genannten Frauenseite. Als auch das Haupttor auf ist, stürmen alle wie eine Herde wildgewordener Tiere ohne Rücksicht auf Verluste los. Endgültig zu viel für mich - ich rette mich an den Rand, verberge mich in Martins schützenden Armen. Ärgerlich stößt er einen Inder mit draufhaltender Kamera weg.

Langsam folgen wir den Massen. Ich hatte mich noch nicht wieder ganz gefangen, da wollen sie plötzlich Martin und mich auseinander ziehen. Frauen links, Männer rechts! Ich hasse diese dumme indische Geschlechtertrennung jedes Mal. In dem Gewimmel würde ich die drei Männer verlieren. Ich klammere mich an Martin fest. Nach kurzer Diskussion und beim Anblick meiner Verstörtheit lassen sie mich vorerst bei den Männern mitlaufen. Die Blicke sind mir jetzt egal, Hauptsache nicht allein sein unter den wildgewordenen Indern. Das Viehtreiben geht weiter und wir müssen uns nun doch trennen. Eine große Soldatin tastet mich ab. Die Frauenseite ist völlig überfüllt – es geht kaum voran. Wahrscheinlich weil die ganzen Männer schon vorweggestürmt sind. Meine drei Männer lassen mich nicht aus den Augen und warten geduldig auf mich. Als wir endlich wieder zusammen geführt werden, stürzen alle wie verrückt zu den Tribünen hinauf.

Weit hinten finden wir noch Platz. Wenig später müssen wir uns von den heißen Steinsitzplätzen erheben. Das Gedränge wird so schlimm, dass man nur noch stehen kann. Toll, schon wieder eingepfercht zwischen stinkenden Männern. Hin und wieder versucht sich ein Verkäufer mit indischen Flaggen oder Zeremonie-DVDs durchzuquetschen.

Auf beiden Seiten des Grenztors sind Tribünen aufgebaut und indische bzw. pakistanische Flaggen zieren die an ein Stadium erinnernde Kulisse. Auch die Stimmung wirkt wie beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft: Patriotische Sprachgesänge a la "Hindustan, Mutter Indien", wehende Fähnchen. Ein Anheizer animiert die Massen per Mikrofon zu Jubelschreien und fordert besonders vollen Einsatz, wenn von der pakistanischen Seite laute Freudenrufe zu hören sind. Die ganze Zeremonie gestaltet sich nämlich als eine Art Wettkampf: Wer singt lauter oder wer hat die volleren Tribünen? Die Inder haben ein Vielfaches an Sitzplätzen errichtet. Es ist ja auch das größere Land. Bei den Pakistani sind die Ränge bis kurz vor Beginn spärlich besetzt. Einer von ihnen soll das so begründet haben: „Die haben mehr Arbeitslose und mehr Zeit als wir“.
Auf der Grenzstraße versammeln sich nun Frauen, die nacheinander mit großen indischen Fahnen bis zum Grenztor rennen und zurück. Sie reißen sich förmlich darum kurz im Mittelpunkt zu stehen und die patriotische Aufgabe übernehmen zu dürfen – eine sogar mit Kind im Arm. Danach tanzen sie ausgelassen, was irgendwie an eine Love Parade im Grenzstreifen erinnert.


Frauen rennen mit den Fahnen, im Hintergrund: die Tribühne der Pakistani




Das eigentliche Schauspiel war dann weitaus weniger spektakulär als gedacht: Die stolzen, riesigen Elitesoldaten werfen ihre Oberkörper nach vorne und stürmen an die Grenze. Ihre Beine schnellen bei jedem Schritt auf Stirnhöhe empor. Die Gewehre werden präsentiert, Kampfgebrüll über die Grenze geschmettert. Die Stimmung ist ohrenbetäubend. Zuletzt werden die Fahnen feierlich eingeholt.




Ob man das Spektakel als übertriebene Zuschaustellung von militantem Nationalstolz oder volksfestartige Tradition wahrnimmt – für Außenstehende ist es Geschmackssache. Mich hat es nicht besonders mitgerissen. Es hat sich also nicht gelohnt so zerquetscht zu werden, um gute Plätze zu ergattern. Allerdings erfuhren wir später, dass es für Ausländer eine VIP-Loge gegeben hätte – ganz nah am eigentlichen Grenzübergang und somit an der Zeremonie. Toll…ich liebe die indische Informationspolitik. :-/ Naja, dafür waren wir wieder mal direkt am indischen Leben/Leiden dran.
Noch vor dem großen Massenaufbruch versuchen wir fluchtartig das Gelände zu verlassen. Plötzlich hält unserer Fahrer mitten auf der Straße an und steigt aus. Wir haben einen Platten. Ohne jegliche Kennzeichnung wechselt er mitten auf der Fahrbahn den Reifen. Willkommen in Indien!




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