Samstag, 18. Juni 2011

43/ Nordindienreise - Gastfreundschaft

Vor dem Bahnhof wartet auf uns ein großes weißes Auto. Das Gepäck stapelt der Fahrer auf dem Dach und zwischen den Mädels im Kofferraum. Ein Bettler redet wieder in Hindi auf uns ein, da sprechen wir Deutsch mit ihm. Hindi ist in Nordindien die allgemein gebräuchliche Sprache. Mit Englisch ist man selbst in großen Städten oft aufgeschmissen. Das widerspricht der Darstellung vieler Reiseführer, die sich wohl eher an Teilnehmer durchorganisierter Reisen mit gewissem Standard richten.




















Als erstes setzen wir Kushveen am Busbahnhof ab. Dann fahren wir von Delhi Richtung Norden. Auf dem Weg sehe ich, wie man eine Riksha auf indisch abschleppt. Eine andere fährt hinter der kaputten Riksha her. Der hintere Rikshafahrer hält sein Bein raus und schiebt mit dem Fuß die schräg vorne rechts befindliche Riksha durch die Stadt. Halten wir an einer der wenigen Ampeln, laufen Menschen durch die Autoreihen und verkaufen etwas. Mittlerweile ist es abends, wir haben Hunger, sind müde und wollen nach zwei Tagen Schweißbad endlich wieder eine Dusche zu Gesicht bekommen. Der Plan von Martins Klassenkameraden sieht anders aus. Nur kurz halten wir an einer Art Raststätte. Es gibt Aloo Parota mit weißer Butter und ein Kulfi-Eis. Meine Geschmacksnerven explodieren förmlich vor Genuss. Es schmeckt viel besser als in Südindien. Das hat auch einen Grund: In Südindien stellen sie alles aus Reis her, hier im Norden verwenden sie Weizen. Anstatt Öl wie im Süden, verwenden sie bei allen Gerichten viel Butter. Die Küche des Nordens ist im Allgemeinen milder als die des Südens, in der mit Chillis nicht gegeizt wird. Ankur sagte, dass die Menschen im Norden lieber Geld in gutes Essen investieren, während man im Süden alles für die Bildung aufspart.

Eigentlich möchte ich mit Martin in einer Bar als kleinen Ersatz Männertag feiern. Das wäre eine schöne Überraschung nach den Reisestrapazen gewesen. Er hat seinen Ehrentag völlig vergessen. Aber daraus wird nichts.

Karnal liegt im Staat Haryana 123 km nördlich von Delhi. Dort setzen wir als erstes Richa ab. Sie wohnt in einem pompösen Haus mitten in der Stadt in einer kleinen Seitenstraße. Vom Balkon oben lassen sie eine Bombe mit vielen bunten Papierschnipseln platzen, die nun über unseren Köpfen zur Erde regnen. Die kleine Urgroßmutter umarmt uns alle innig. Überglücklich schaut sie zu Martin hinauf während sie ihn fest umklammert. Selbst im Haus hört sie nicht auf mir über den Rücken zu fahren. Martin und ich begrüßen und verabschieden uns mit dem formellen „Namasté“ (Handflächen vor der Brust zusammen legen und Kopf neigen). Er neigt seinen Kopf besonders tief, um sehr großen Respekt Ausdruck zu geben. Richas Klassenkameraden gehen noch einen Schritt weiter. Sie deuten an mit der Hand die Füße der Person berühren zu wollen. Die Gastgeber halten sie aber davon ab sich weiter nach unten zu beugen. Anschließend führen sie die Hand zur Stirn oder Brust.

Nach einem halben Jahr kann Richa endlich wieder ihre Familie in die Arme schließen. In einem luxeriös eingerichteten Zimmer sollen wir Platz nehmen. Die Tafel wird mit Torte, Keksen, Samosa, Cola und anderen Kleinigkeiten gedeckt. Die gesamte Großfamilie steht um uns herum und schaut uns beim Essen zu. Alle sprechen Hindi, Fotos werden geschossen. Richas Schwester kommt auf mich zu und erzählt mir etwas in Hindi. Als ich ihr zu verstehen gebe, dass ich nur Englisch spreche, ist sie erstaunt. Anschließend fordert sie in gutem Englisch ein Versprechen von mir, dass wir wieder kommen sollen.
Bei Swatis Haus das Selbe noch einmal: Nur das Haus ist beengter und die Familie kleiner. Beim Essen kapituliere ich. Nachdem ich Martin versichert habe, dass ich ihn auch dick nehme, zwingt er es sich aus seiner unendlichen Höflichkeit herunter. Zum Abschied überreicht mir die Mutter 250 Rupien. Ich kam mir unheimlich schlecht vor, aber ablehnen hätte bestimmt die Familienehre beschädigt oder so. Sie versicherte mir, dass sei hier so üblich – komische Tradition. Eine wildfremde Familie 10 Minuten besuchen, Essen abfassen und dafür noch Geld kassieren. Dabei dachte ich Geldgeschenke seien in Indien verpönt.

Dannach setzen wir noch Rakesh ab und dann geht’s endlich zur Endstation des heutigen Tages: Ankurs Zuhause in Kurukshetra. Die Stadt liegt etwa 160 Kilometer nördlich von Delhi und 39 Kilometer nördlich von Karnal.

Zur Begrüßung umarmen uns der Vater und der Großvater herzlich. Das zerüttelte ein wenig mein indisches Weltbild. Sonst geben mir indische Männer oft nicht einmal die Hand. Die Frauen halten sich sehr stark im Hintergrund. Die Familie ist mir gleich sehr sympathisch. Außerdem sprechen sie perfekt Englisch. Spätestens als wir nach der Bedeutung der unzähligen Trophäen fragen, wissen wir, dass wir Gäste einer sehr intellektuellen Familie sind. Es sind alles Literaturpreise des Großvaters. Er hat über 100 Bücher in der Punjabi-Sprache geschrieben.

Yuvaraju, Martin, Ankurs Vater und ich

Mittlerweile ist es nach 10, aber der Tisch wird schon wieder mit warmen Mahlzeiten gedeckt. Viele indische Speisen werde ich in Deutschland sehr vermissen. Die Frauen ‚verstecken‘ sich die ganze Zeit in der Küche. Die Männer bedienen uns. Beim Abräumen zu helfen, wird uns strengstens verboten.

Mitternacht gehen wir endlich aufs Zimmer. Eine große Eidechse begrüßt uns dort. Die Inder finden das nicht schlimm mit denen in einem Zimmer zu schlafen. Sie fressen ja Insekten und Mücken. Martin begibt sich auf eine schweißtreibende Jagd, aber außer einem Stückchen Schwanz erbeutet er nichts. Ich entdecke ein noch größeres Problem: Es gibt keine Dusche. Am liebsten würde ich sofort in ein Hotel gehen. Ein klein bisschen ‚Luxus‘ habe ich mir nach der ‚Zugfahrt des Grauens‘ doch verdient. Notgedrungen versuche ich es mit einem Eimer Wasser.

Ausblick auf die typisch indischen Hausdächer, die als Terassen genutzt werden

Früh am nächsten Morgen bringt uns der liebe Großvater die indische Ideologie näher: Du tust etwas, weil Gott es so will. Genauso ist es, wenn er ein Buch schreibt. Wenn viele es lesen, dann weil Gott es so gewollt hat. Er erzählte von Gandhi, vom Karma und vom Licht in uns. Mit der großen historischen Bedeutung des Ortes Kurukshetra endet er. 

Mit Ankurs Familie


Danach besuchen wir Ankurs Schule, die Uni, das Büro des Vaters und ein Museum. Yuvaraju und Ankur sind beide durch Einfluss bzw. Willen der Väter in den Printbereich gekommen. Die erste Zeitschrift, die Ankurs Vater damals gemacht hat, hieß „Ankur“ (die Pflanze sprießt). Er beschloss, dass sein erstes Kind so heißen sollte – egal ob es ein Junge oder Mädchen sei.
Bei dem ganzen Aufwand und die Zeit, die sie sich für uns nehmen, denke ich daran, wie es wird, wenn Martins Klassenkameraden nach Deutschland kommen. Dann müssen wir Deutschen uns schon ein bisschen mehr anstrengen, Stichwort: Gastfreundschaft.







Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen