Sonntag, 26. Juni 2011

46/ Nordindienreise – Erkundungstour in Delhi


Morgens 9.30 Uhr beginnt unsere Stadtrundfahrt durch Delhi. Die Tour im AC-Bus kostet 300 Rupien. Es ist Montag und nicht alle Sehenswürdigkeiten sind offen, was ich nicht weiter schlimm finde.

Delhi ist die alte Mogulstadt. New Delhi wurde 1920 von den britischen Kolonialherren angelegt und ist noch heute Sitz aller indischen Regierungsstellen.
Zuerst besuchen wir den Lakshmi Narajan Tempel, einer der wenigen typischen nordindischen Tempelbauten Delhis. Die Touristenbusse parken eng an eng auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir müssen durch eine Unterführung laufen, um zu dem Tempel zu gelangen. Natürlich stehen rechts und links unzählige Verkäufer. Im Tempel muss ich meine Schultern unter einem großen stinkenden Tuch verstecken. 



Das Kriegsdenkmal „India Gate“, offiziell „All India War Memorial“ ähnelt dem Arc de Triomphe in Paris. 


Kinder spielen im Wasser


Zu jeder Sightseeing-Tour in Indien gehört natürlich alle Passagiere in mindestens einem Geschäft abzuladen. Dann heißt es, wir müssen nichts kaufen, sollen nur anschauen. Trotzdem komme ich nicht durch das Geschäft ohne von den Verkäufern „Madam, Madam“ gerufen zu werden, weil sie mir was ganz Tolles zeigen wollen. Es gibt haufenweise kitschige Deko-Figuren, Schmuck und einen Raum voller Stoffe. Danke, kein Interesse. Die Schneider hier sind ja mit meiner Figur haltlos überfordert. Bei Einem war ich bestimmt 10-mal zum Umändern. Was ist daran so schwer ein passendes Kleidungsstück zu nähen, wenn man alle Maße hat?

Zwei Kinder aus unserem Bus können sich über neue prollige Uhren freuen. Die des Jungen ist breiter als sein Handgelenk.























Eines von Delhis berühmtesten Wahrzeichen und eines der ersten Bauwerke des moslemischen Indiens: der spitz zulaufende, rote Sandsteinturm des Qutb Minar. Er wurde 1199 als Siegesturm zusammen mit einer Moschee errichtet. Man feierte damit den Beginn der muslimischen Vorherrschaft über Delhi und weite Teile des Subkontinents. Heute ist er von den Ruinen der Moschee umgeben. Der Qutb Minar ist über 70 Meter hoch und mit Ornamenten und Koranversen verziert.
Natürlich gibt’s dieses tolle Bauwerk nicht umsonst. Inder zahlen lächerliche 10 Rupien (15 Cent) Eintritt. Alle Ausländer dürfen 250 Rupien bezahlen. Außerdem wussten wir nicht, dass bei der Tour Eintrittspreise extra sind.


Der Lotustempel ist eines der beliebtesten touristischen Ziele in Neu-Delhi, den jährlich mehr als vier Millionen Menschen besichtigen, was ungefähr 13.000 Menschen pro Tag entspricht. Der Name Lotustempel ist dabei an die Form des Gebäudes angelehnt, die eine blumenähnliche Gestalt hat. Die neun Zugangstüren öffnen zu einer großen, 40 Meter hohen Andachtshalle die im inneren aus weißem Mamor besteht.



An Mahatma Gandhi erinnert heute das Rajghat. Nach seiner Ermordung wurde Gandhi eingeäschert und seine Asche im heiligen Fluss, dem Ganges verstreut. An der Stelle, an der seine sterblichen Überreste 1948 verbrannten, wurde später ein Denkmal errichtet. Eine schlichte, schwarze Marmorplatte, auf der eine ewige Flamme brennt, ehrt den Friedenslehrer und geistigen Vater Indiens. 

Rajghat-Gedenkstätte

Damit war die Tour auch schon zu Ende. Der Hitze entkamen wir mit Wassermelonenstückchen, einigen kalten Wasserflaschen und viel Eis. Ich bin auf keinem Foto zu sehen, da ich es vermeiden wollte, dass andere Leute mit fotografieren während ich posiere. Zwei Jungs wollten ein „Nein“ nicht akzeptieren und folgten uns. Sie taten so als machten sie etwas mit ihrem Handy, um einen Moment abzupassen, in dem wir nicht aufpassen. Diesen Gefallen tat ich ihnen nicht und sie zogen enttäuscht ab.

An einer Straße werden wir abgesetzt im überfüllten Delhi. Wir müssen uns erst mal zurecht finden und aufpassen nicht überfahren zu werden. Es gibt drei Kategorien von Autos: Entweder sie haben Seitenspiegel, diese sind abgeknickt beim Fahren oder sie haben gar keine. Zur indischen Großstadt gehören ebenfalls Bettler - mit unbedeckten Stümpfen.

Bei einem kleinen Stand am Markt kaufen wir eine Sonnenbrille. Obwohl wir den Preis um 2/3 runter gehandelt hatten, verrät uns ein netter junger Mann, das sie immer noch überteuert gewesen wäre. Man kann nicht tief genug anfangen bei Preisverhandlungen. Komischerweise weiß er auch, dass wir Deutsche sind und verabschiedet sich mit „Tschüss!“.





Später landen wir noch mal in einem „Touristenbüro“, um nach Broschüren zu fragen. Der Mann ist erst äußerst freundlich und beginnt sofort uns auszufragen. Sofort holt er einen weißen Zettel und will unsere geplanten Reisetage notieren. Wir geben ihm zu verstehen, dass wir versorgt sind und nichts kaufen möchten. Da wird er plötzlich einsilbig und gibt zu, dass er nicht mal Broschüren oder eine Karte hat.

Mit der Fahrradriksha lassen wir uns nach Hause fahren. Der alte Mann strampelt sich ab; andere Fahrradrikshas überholen uns mit Leichtigkeit. In einer Seitenstraße ist Stau und alle Fußgänger spazieren an uns vorbei. Als wir am Ziel nach dem Preis fragen, zeigt er uns seinen Daumen. Eine Rupie? Dann bekommt er doch noch auf Englisch „Hundert“ raus – wahrscheinlich die einzige hohe Zahl, die er kannte. Wir geben ihm 60.

Zum Abendbrot essen wir einen vegetarischen Tali. Auf einer Platte werden verschiedene Speisen serviert: Roti (Fladenbrot), Raitha (Joghurt-Salat-Mischung), Dhal Makhani (Linsensoße), Paneer Kadai (Käse in Soße), Biriyani-Reis, Aloo Gobi (Kartoffel-Blumenkohl-Mischung), Salat (Tomaten-, Gurken-, Zwiebelscheiben), Sweets (süßes Dessert: weißer, extrem süßer Zuckerschwammball).


Zum Abschluss des Tages besuchen wir noch ein bekanntes Süßigkeitengeschäft. Ich liebe Pedhas! - Hauptbestandteil Milch und Zucker. Die Schokotorte ist lange nicht so gut wie in Deutschland – es schmeckt nur nach Creme, aber nicht nach Schoko. Backen ist nicht so ihre Spezialität. Aber das Kulfibar-Eis ist in Nordindien unwiderstehlich.

O-Ton: Das Butterscotch-Eis schmeckt ja mega geil!





Samstag, 25. Juni 2011

45/ Nordindienreise – Katastrophentag in Delhi

Im Nachtbus starten wir 23.15 Uhr von Amritsar nach Delhi. Martin und ich teilen uns eine enge, harte Liege. Fenster in Bussen lassen sich allgemein sau schlecht bewegen. So begleitet uns im ruckligen Bus ein windiger Durchzug, der unsere Vorhänge flattern und genug Einsicht für neugierige Blicke lässt. In den Morgenstunden finden wir endlich etwas Schlaf.

Ein Monstrum auf Indiens Straßen

7.15 Uhr werden wir unsanft am Busbahnhof in Alt-Delhi geweckt. An der überfüllten Metrostation stehen wir in einer der ellenlangen Schlangen für Tickets an. Neben dem nervigen Angestarre gibt es immer mal wieder nette Begegnungen mit Menschen. Ein kleines Mädchen schaut zu mir hoch und gibt mir die Hand. Dann fragt sie höflich nach meinem und Martins Namen. Ihr Vater im Hintergrund hilft ihr bei der richtigen englischen Fragestellung. Sie möchte wissen, woher wir kommen und wie wir Indien finden. Der Vater übersetzt ihr unsere Antworten.

Runde, blaue Chips verschaffen uns Zugang zur Metro. Die Securitys lassen uns in zwei Schlangen rechts und links von der Tür artig anstehen. Die Metro ist sehr neu, sauber und leise. Während der Fahrt haben wir einen ausgezeichneten Blick auf Delhi. Das ist also die Hauptstadt Indiens. Es gibt keine herausragenden großen Gebäude, nur unheimlich viele aneinander gereihte Häuser. Sie haben keine Dächer, sondern die typischen Terrassen. Das ist eine zusätzliche Etage, die in den engen Großstädten wunderbar vielfältig genutzt werden kann. Sie müssen ja keine Schneemassen von den Dächern entfernen.

In einer anderen Ecke in Delhi steigen wir aus. Ankur telefoniert. Als er zurück kommt, macht er ein sehr ernstes Gesicht. Nur langsam lässt er sich die Informationen aus der Nase ziehen. Wir sollen Delhi so schnell wie möglich verlassen und unser geplanter Trip für heute nach Agra sei viel zu gefährlich. Am besten wäre, wir nehmen gleich einen Flug zurück nach Manipal. Wir können nicht glauben, dass unsere Nordindienreise so schnell schon wieder vorbei sein soll. Unvorstellbar, dass wir Indien verlassen müssen ohne das Taj Mahal in Agra gesehen zu haben.
Wir fragen nach den Gründen. Er hat mit seinen Eltern telefoniert und sie haben es aus dem Fernsehen. Am gestrigen Samstag sollen in Delhi ein Guru und seine Anhänger in den Hungerstreik getreten sein, um gegen die weit verbreitete Korruption im Lande und vor allem auf hoher politischer Ebene zu protestieren. Ein Ziel ist, dass die Politiker, dass indische Geld u.a. von der Schweizer Bank wieder ins Land bringen. Die Protestaktion sei ausgeartet, es hätte ein Feuer gegeben. Alle, die nicht aus Delhi sind, sollen das Gebiet verlassen. Selbst die Fahrt nach Agra sei viel zu gefährlich. Wir könnten angehalten und festgenommen werden oder so ähnlich. Ankurs Eltern jedenfalls haben ihrem 23-jährigen Sohn verboten dort hinzufahren. Er soll nach Hause kommen.

Wir sind zwar verunsichert, aber können das Ganze noch nicht recht glauben. Jedenfalls sieht an der Metrostation nichts nach einer Massenhysterie aus. Niemand, der auf uns zukommt, um uns zu warnen und bittet die Stadt zu verlassen. Ich will mir das lieber offiziell bestätigen lassen - von einem Polizisten oder am besten die ganze Sache im Internet recherchieren. Sie können doch nicht alle Fremden aus der Stadt evakuieren. So leicht wollen wir das Taj Mahal nicht aufgeben. Aber selbst Yuvaraju will nicht mehr mitkommen, wenn es gefährlich sei. Ankur schlug vor seinen bekannten Taxifahrer zu befragen. Er kenne die Situation auf den Straßen und könne uns klar machen wie gefährlich es ist. Wir warten ewig, hungrig und müde auf den guten Mann. Aus fünf Minuten werden ganz schnell mal über 30 hier.

Am liebsten will ich sofort nach Deutschland zurück. Wenn man denkt es kann nicht mehr schlimmer kommen in diesem Urlaub, in Indien schaffen sie es immer. Und außerdem war es bis jetzt eher Quälerei als Urlaub gewesen. Das Schönste bisher war wirklich das nordindische Essen gewesen.

Schließlich wurden wir in ein kleines Reisebüro von Ankurs Bekannten gefahren. Dort warten wir wieder auf Einen, der uns über die Sicherheitslage in Delhi informieren soll. So ernst scheint es nicht zu sein. Immerhin sind wir jetzt schon Stunden in der Hauptstadt. Alles wirkt friedlich verschlafen zum Sonntag. Als der besagte Typ endlich da ist, googelt er erst mal, was eigentlich Sache ist. Es wurden scheinbar 24 Stunden Ruhe in Delhi verordnet – schwer vorstellbar in einer Millionenstadt. Sie bieten uns an am nächsten Morgen um 5 Uhr nach Agra zu fahren. Hab ich es mir doch gedacht, alles halb so wild.

Also bleiben wir heute in Delhi. Angeblich wäre das billigste Hotel hier nur für 1.800 Rupien zu haben. Das nächste Problem waren unsere Rückfahrttickets. Diesmal wollen wir unbedingt welche im Klimaanlagenabteil. Aber zum Sonntag wäre es schwierig da ran zu kommen und überhaupt gebe es nur noch welche auf der Warteliste. Wir sollen aber mal zum Bahnhof fahren, da gäbe es einen extra Schalter für Leute wie uns. Inder müssten dort einen Tag Schlange stehen. Ich sage doch, die indische Bahn ist die schlimmste, chaotischste Null-Service-Firma, die ich je erlebt habe. Da lobe ich mir die Deutsche Bahn.
So, wir wollen also mit der Metro zum Hauptbahnhof fahren. An der Kasse zur Metro stehen mal wieder riesige Menschenmassen. Es würde zwei Stunden dauern, um ein Ticket zu bekommen und der Schalter am Bahnhof soll nur noch bis um 2 Uhr aufhaben. Uns bleibt genau eine ¾ Stunde Zeit. In der Woche soll es hier noch schlimmer sein – will ich mir lieber nicht vorstellen.

Entnervt sprinten wir wieder raus aus der Metrostation. Auf einmal rennt mir ein kleines zerzaustes Mädchen hinterher und schreit laut: „Hey Baby!“ Sie krallt sich an meinem Oberteil fest und ich kann ihre Hand einfach nicht von meiner Kleidung lösen. Martin reißt sie dann mit Gewalt los.

Mit zwei Rikshas sausen wir eilig durch die Stadt. Obwohl der Zähler 110 Rupien anzeigt, müssen wir die vereinbarten 200 Rupien pro Riksha bezahlen. Dann landen wir erschöpft in einer „Touristeninformation“. Der Mann am Schreibtisch ist sehr nett und sagt sogar „Guten Tag.“, als er hört, dass wir Deutsche sind. Ich denke: Hier bin ich richtig! Endlich jemand Kompetentes, der uns helfen kann. Von gefährlichen Ausschreitungen in Delhi weiß er übrigens nichts. Neugierig erkundigt er sich, ob wir ein Paar wären oder verheiratet sind. Dann fängt er an von Jaipur zu schwärmen und dass das der romantischste Ort in Indien sei. Etwas komisch kommt mir vor, dass er uns ziemlich viel ausfragt: Wo seit ihr hier bisher gewesen? Wie viel bezahlt ihr denn für die morgige Fahrt nach Agra? Dabei wollen wir eigentlich nur, dass er uns ein gutes billiges Hotel vorschlägt und uns die Zugtickets besorgt.
Dann kommt die Schreckensnachricht: Die ganze Woche gibt es ab Delhi für alle Klassen nur noch Tickets auf der Warteliste – nein danke, dass hatten wir schon mal auf der Hinfahrt. Es sei ja jetzt Ferienzeit und die Familien fahren von einer Ecke Indiens in die andere. Wir sind extrem enttäuscht; hatte uns Ankur doch versprochen, dass wir wenigstens auf der Rückfahrt bestätigte AC-Tickets (AC = air conditioner = Klimaanlage) bekommen werden. Jetzt erfahren wir, dass wir 3 Monate vorher bestellen müssten und dass die Tickets dann für ca. 3 Stunden verfügbar sind. Tja, bei 1,2 Milliarden Menschen hat es die indische Bahn nicht im Geringsten nötig kundenorientiert zu arbeiten.
Ganz der gerissene Verkäufer bietet der Mann uns nach dieser niederschmetternden Information bestätigte AC-Tickets für über 4.000 Rupien an. Dann unterbreitet er uns ein Reisepaket für 32.000 Rupien. Enthalten wären die Tour Delhi, Agra, Jaipur sowie die Zugtickets. Ich falle bald vom Stuhl und sage: „Es wäre schön, wenn Sie uns helfen könnten und nicht versuchen nur etwas zu verkaufen.“.
Den ganzen Tag machen wir nichts anderes als zu warten und versuchen Informationen zu bekommen. Ich erkundige mich nach einem Heimflug. Ich lasse mir doch nicht das Geld aus der Tasche ziehen. Aber wir sitzen hier fest, wie müssen das Geld investieren. Selbst ein Flug nach Bangalore ist unbezahlbar teuer und Martin redet mir eine kleine spontane Überreaktion nach Deutschland zurück zu fliegen schnell wieder aus. Als ich verlauten lasse, dass wir ja gleich nach Hause schwimmen können, bietet er uns ein Paket ohne Jaipur an. Er fragt nach unserem Budget und schließlich landen wir bei 14.000 Rupien. Darin enthalten sind zwei Nächte in Delhi, ein AC Bus nach Agra mit Übernachtung und die Zugtickets. Er versichert uns, dass wir ab jetzt unseren Urlaub genießen könnten und sie alles für uns regeln … .

Ankur verabschiedet sich von uns. Yuvaraju geht noch etwas mit uns essen (sein erstes am heutigen Tage). Er kann uns leider nicht mehr begleiten, da das Paket zu teuer für ihn ist. Mit dem Zug fährt er nach Agra, schaut sich das Taj Mahal im Dunkeln an und anschließend geht's für ihn nach Hause nach Bangalore.

In unserem Hotelzimmer funktionieren weder Wasserhahn, noch Dusche oder Klospülung richtig. Wir fallen todmüde ins Bett und selbst nach 12 Stunden Schlaf könnten wir noch weiter schlummern.


Ach übrigens, ich habe jetzt mal in den deutschen Medien nach dem Ereignis in Delhi recherchiert.




Nach acht Tagen brach Swami Baba Ramdev den Hungerstreik ab. 




Mittwoch, 22. Juni 2011

45/ Nordindienreise – Zeremonie an der Grenze zu Pakistan


Mit dem Auto fahren wir Richtung Wagah Border. Wagah ist ein Grenzübergang an der Straße zwischen Amritsar, Punjab (Indien) und Lahore, Punjab (Pakistan). An der Grenze wird allabendlich auf beiden Seiten eine von Menschen aus allen Teilen beider Länder besuchte und von deren Schlachtgesängen angefeuerte Militärparade der Grenzsoldaten abgehalten. Die beiden Staaten haben aufgrund historischer oder auch anhaltender Feindseligkeiten wegen Gebietsdisputen ein angespanntes politisches Verhältnis.
Damit wir gute Plätze bekommen, stellen wir uns rechtzeitig an. Die Menschentraube wird immer größer und dichter vor dem geschlossenen Tor. Glühend heiß prasselt die Sonne unerbittlich auf uns herab. Nach wenigen Minuten sind die Körper der aneinander gepressten Menschen klitschnass. Das Gedränge wird immer schlimmer. Meine drei Männer versuchen mich bestmöglich inmitten der vielen fremden männlichen Körper etwas abzuschirmen. Dieses eingepfercht sein wie Tiere erinnert mich wieder an die Zugfahrt. Ich will nur noch weg. Mir sind doch die Plätze egal. Martin klagt über Schwindelgefühl. Es geht beinahe an die körperliche und seelische Grenze.


Nach der längsten dreiviertel Stunde meines Lebens, werden die Tore geöffnet. Zuerst auf der so genannten Frauenseite. Als auch das Haupttor auf ist, stürmen alle wie eine Herde wildgewordener Tiere ohne Rücksicht auf Verluste los. Endgültig zu viel für mich - ich rette mich an den Rand, verberge mich in Martins schützenden Armen. Ärgerlich stößt er einen Inder mit draufhaltender Kamera weg.

Langsam folgen wir den Massen. Ich hatte mich noch nicht wieder ganz gefangen, da wollen sie plötzlich Martin und mich auseinander ziehen. Frauen links, Männer rechts! Ich hasse diese dumme indische Geschlechtertrennung jedes Mal. In dem Gewimmel würde ich die drei Männer verlieren. Ich klammere mich an Martin fest. Nach kurzer Diskussion und beim Anblick meiner Verstörtheit lassen sie mich vorerst bei den Männern mitlaufen. Die Blicke sind mir jetzt egal, Hauptsache nicht allein sein unter den wildgewordenen Indern. Das Viehtreiben geht weiter und wir müssen uns nun doch trennen. Eine große Soldatin tastet mich ab. Die Frauenseite ist völlig überfüllt – es geht kaum voran. Wahrscheinlich weil die ganzen Männer schon vorweggestürmt sind. Meine drei Männer lassen mich nicht aus den Augen und warten geduldig auf mich. Als wir endlich wieder zusammen geführt werden, stürzen alle wie verrückt zu den Tribünen hinauf.

Weit hinten finden wir noch Platz. Wenig später müssen wir uns von den heißen Steinsitzplätzen erheben. Das Gedränge wird so schlimm, dass man nur noch stehen kann. Toll, schon wieder eingepfercht zwischen stinkenden Männern. Hin und wieder versucht sich ein Verkäufer mit indischen Flaggen oder Zeremonie-DVDs durchzuquetschen.

Auf beiden Seiten des Grenztors sind Tribünen aufgebaut und indische bzw. pakistanische Flaggen zieren die an ein Stadium erinnernde Kulisse. Auch die Stimmung wirkt wie beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft: Patriotische Sprachgesänge a la "Hindustan, Mutter Indien", wehende Fähnchen. Ein Anheizer animiert die Massen per Mikrofon zu Jubelschreien und fordert besonders vollen Einsatz, wenn von der pakistanischen Seite laute Freudenrufe zu hören sind. Die ganze Zeremonie gestaltet sich nämlich als eine Art Wettkampf: Wer singt lauter oder wer hat die volleren Tribünen? Die Inder haben ein Vielfaches an Sitzplätzen errichtet. Es ist ja auch das größere Land. Bei den Pakistani sind die Ränge bis kurz vor Beginn spärlich besetzt. Einer von ihnen soll das so begründet haben: „Die haben mehr Arbeitslose und mehr Zeit als wir“.
Auf der Grenzstraße versammeln sich nun Frauen, die nacheinander mit großen indischen Fahnen bis zum Grenztor rennen und zurück. Sie reißen sich förmlich darum kurz im Mittelpunkt zu stehen und die patriotische Aufgabe übernehmen zu dürfen – eine sogar mit Kind im Arm. Danach tanzen sie ausgelassen, was irgendwie an eine Love Parade im Grenzstreifen erinnert.


Frauen rennen mit den Fahnen, im Hintergrund: die Tribühne der Pakistani




Das eigentliche Schauspiel war dann weitaus weniger spektakulär als gedacht: Die stolzen, riesigen Elitesoldaten werfen ihre Oberkörper nach vorne und stürmen an die Grenze. Ihre Beine schnellen bei jedem Schritt auf Stirnhöhe empor. Die Gewehre werden präsentiert, Kampfgebrüll über die Grenze geschmettert. Die Stimmung ist ohrenbetäubend. Zuletzt werden die Fahnen feierlich eingeholt.




Ob man das Spektakel als übertriebene Zuschaustellung von militantem Nationalstolz oder volksfestartige Tradition wahrnimmt – für Außenstehende ist es Geschmackssache. Mich hat es nicht besonders mitgerissen. Es hat sich also nicht gelohnt so zerquetscht zu werden, um gute Plätze zu ergattern. Allerdings erfuhren wir später, dass es für Ausländer eine VIP-Loge gegeben hätte – ganz nah am eigentlichen Grenzübergang und somit an der Zeremonie. Toll…ich liebe die indische Informationspolitik. :-/ Naja, dafür waren wir wieder mal direkt am indischen Leben/Leiden dran.
Noch vor dem großen Massenaufbruch versuchen wir fluchtartig das Gelände zu verlassen. Plötzlich hält unserer Fahrer mitten auf der Straße an und steigt aus. Wir haben einen Platten. Ohne jegliche Kennzeichnung wechselt er mitten auf der Fahrbahn den Reifen. Willkommen in Indien!




Sonntag, 19. Juni 2011

44/ Nordindienreise – Goldener Tempel und Massaker von Amritsar


Jetzt sind wir nur noch zu viert. Unsere zusammengeschrumpfte Reisegruppe durch Nordindien: Ankur, Yuvaraju, Martin und ich. Indische Frauen weiß man am liebsten zu Hause unter der Obhut der Familie. Suparna durfte leider nicht mitkommen.

Drei Busse bringen uns nach Amritsar. Die Stadt liegt im nordwestlichen Bundesstaat Punjab mit etwa 1.000.000 Einwohnern und ist das spirituelle Zentrum des Sikhismus (Goldener Tempel). Kleiner Kulturschock: Hier ist es noch krasser, als man sich eine indische Großstadt vorstellt. In der Luft hängt ein grauer staubiger Schleier. Alles ist dreckig, überfüllt und Armut überall präsent.

Eigentlich wollten wir mit dem Nachtbus wieder zurück nach Dehli fahren, aber ich lege mein Veto ein. Seit Tagen habe ich mich keine Minute mal richtig wohl fühlen bzw. ausruhen können. Ich möchte nur noch in ein mega schickes Hotel – egal wie viel es kostet. Erst mal wieder Mensch werden und Kraft tanken. Per Fahrradriksha suchen wir uns eins. Das erste hatte keine Dusche. Das zweite ist dafür umso traumhafter. Sauber und Klimaanlage für 1.250 Rupien. Und endlich eine Dusche - nach einer Stunde auf indischen Straßen gleicht man einem Staubfänger.


Am späten Abend machen wir uns auf den Weg zum Goldenen Tempel. Verkäufer halten uns komische Tücher hin. Ich dachte mir, wer kauft denn bitteschön so was? Bis ich erfahre, dass auch ich so eins kaufen muss. Ich lass mir ja nicht gerne irgendetwas vorschreiben (Kleidung), aber wenigstens müssen hier alle ihren Kopf bedecken – von Kind bis Mann. Als Martin sein Kopftuch aufsetzt, haben wir alle den selben Gedanken: Er sieht aus wie ein Jünger des Ku-Klux-Klan. Aber schließlich wird jedem Besucher der Eintritt gewährt, egal welcher Religion er angehört.
Dann müssen wir unsere Schuhe abgeben und mit nackten Füßen durch eine sicher nicht keimfreie Wasserstelle laufen. 

 

Der Goldene Tempel liegt auf einer Insel im so genannten Nektarteich und ist mit Blattgold bedeckt. Auf dem Steg dorthin warten wir ewig. Plötzlich sollen wir uns eng an eng alle auf den harten Steinboden setzten. Lange halte ich es nicht aus und stehe demonstrativ wieder auf. Alles ist in der Tempelanlage sehr sauber. Der Boden beim Tempel fühlt sich eingefettet an. Er wird täglich mit Milch gewischt.


Im Tempel wird das heilige Buch der Sikhs aufbewahrt und während der Tageszeit Verse daraus rezitiert. Diese Gesänge werden musikalisch untermalt und sind über Lautsprecher in der ganzen Tempelanlage zu hören, was eine eindrucksvolle Atmosphäre schafft. Als wir endlich im Tempel sind, wird das Buch gerade in einer Prozedur in Stoffbahnen gehüllt und ‚schlafen‘ gelegt.
Umgeben ist der Tempel von einer Palastanlage. Diese hat je ein Tor auf allen vier Seiten, was die Offenheit der Sikhs gegenüber allen Menschen und Religionen symbolisieren soll. Der Tempel ist immer geöffnet und wird täglich von tausenden Pilgern, darunter nicht nur Sihks, besucht. Dem Glauben der Sikhs zufolge kann, wer im heiligen Wasser badet oder davon trinkt, sein persönliches Karma verbessern. 


Die Sikhs machen in Indien nur ca. 2% der Bevölkerung aus. Mehr als die Hälfte von ihnen leben im Bundesstaat Punjab. Der Sikhismus entwickelte sich aus einer ursprünglich hinduistischen Sekte heraus. Diese neue Religion lehnte das strenge Kastensystem der Hindus ab und stand für Gleichheit und Frieden ein. Von der hinduistischen Philosophie übernahmen sie die Karmalehre und den Glauben an den Kreis der Wiedergeburt.
Martin ist besonders von den auffälligen Turbanen der Sikhs fasziniert. Sikhs müssen sich nämlich an strenge Regeln halten. So ist der Konsum von Alkohol strengstens untersagt, sowie das Rauchen und das Schneiden der Kopf - und Barthaare. Bei kleinen Jungs sticht nur ein kleiner runder Knäul aus dem mit einen Tuch umspannten Kopf hervor. Bei den älteren Männern ist der Haar-Turban umso größer. Welche Last sie da täglich auf ihrem Kopf rumschleppen müssen. Und wie kratzen sie sich? Den ausgeprägten Vollbart nicht zu vergessen. Was die Menschen sich da wieder für ihren Glauben antun. Die Frauen haben es in dieser Religion fast einfach dagegen: Es reicht aus, wenn sie ein transparentes Tuch in der Farbe ihrer Wahl über den Haaren tragen.


Am nächsten Morgen essen wir zum Frühstück das gleiche leckere nordindische Essen wie abends: Dhal Makani, Aloo Parota mit Butter, Curd und Lassi. Ankur sagt, dass sie in Nordindien zum Frühstück sehr viel und kräftig essen, dafür nichts zum Mittag und dann wieder ein ordentliches Abendbrot zu später Stunde.



Im Anschluss besichtigen wir einen Park. 1919 verübten dort britische Soldaten das Massaker von Amritsar an Sikhs, Muslimen und Hindus, die für die Unabhängigkeit Indiens protestierten. Betroffen waren Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen. Das Massaker fand in einem von Mauern umgebenen Park, dem Jallianwala Bagh, statt. Der einzige Fluchtweg - nämlich der einzige Eingang zu diesem umfriedeten Platz - wurde von den Soldaten selbst versperrt. Nach offiziellen Angaben wurden 379 der gewaltlosen Demonstranten getötet und 1.200 verletzt. 


Denkmal in Erinnerung an das Massaker von Amritsar
Einschusslöcher an einer erhaltenen Mauer

In Anbetracht dieses grausamen historischen Ereignisses, ist es traurig, dass man nicht mal hier vor lüsternen „Paparrazzis“ in Ruhe gelassen wird. Verständlicherweise bringen Martin die unverblümten Blicke und Fotoversuche zur Weißglut. An sie werde ich mich wohl nie gewöhnen können. Dort war das letzte Mal, dass ich mich zusammen mit fremden Indern fotografieren ließ. Kleine Jungs rennen mir noch bis zum Ausgang hinterher für ein Trophäenbild.



Samstag, 18. Juni 2011

43/ Nordindienreise - Gastfreundschaft

Vor dem Bahnhof wartet auf uns ein großes weißes Auto. Das Gepäck stapelt der Fahrer auf dem Dach und zwischen den Mädels im Kofferraum. Ein Bettler redet wieder in Hindi auf uns ein, da sprechen wir Deutsch mit ihm. Hindi ist in Nordindien die allgemein gebräuchliche Sprache. Mit Englisch ist man selbst in großen Städten oft aufgeschmissen. Das widerspricht der Darstellung vieler Reiseführer, die sich wohl eher an Teilnehmer durchorganisierter Reisen mit gewissem Standard richten.




















Als erstes setzen wir Kushveen am Busbahnhof ab. Dann fahren wir von Delhi Richtung Norden. Auf dem Weg sehe ich, wie man eine Riksha auf indisch abschleppt. Eine andere fährt hinter der kaputten Riksha her. Der hintere Rikshafahrer hält sein Bein raus und schiebt mit dem Fuß die schräg vorne rechts befindliche Riksha durch die Stadt. Halten wir an einer der wenigen Ampeln, laufen Menschen durch die Autoreihen und verkaufen etwas. Mittlerweile ist es abends, wir haben Hunger, sind müde und wollen nach zwei Tagen Schweißbad endlich wieder eine Dusche zu Gesicht bekommen. Der Plan von Martins Klassenkameraden sieht anders aus. Nur kurz halten wir an einer Art Raststätte. Es gibt Aloo Parota mit weißer Butter und ein Kulfi-Eis. Meine Geschmacksnerven explodieren förmlich vor Genuss. Es schmeckt viel besser als in Südindien. Das hat auch einen Grund: In Südindien stellen sie alles aus Reis her, hier im Norden verwenden sie Weizen. Anstatt Öl wie im Süden, verwenden sie bei allen Gerichten viel Butter. Die Küche des Nordens ist im Allgemeinen milder als die des Südens, in der mit Chillis nicht gegeizt wird. Ankur sagte, dass die Menschen im Norden lieber Geld in gutes Essen investieren, während man im Süden alles für die Bildung aufspart.

Eigentlich möchte ich mit Martin in einer Bar als kleinen Ersatz Männertag feiern. Das wäre eine schöne Überraschung nach den Reisestrapazen gewesen. Er hat seinen Ehrentag völlig vergessen. Aber daraus wird nichts.

Karnal liegt im Staat Haryana 123 km nördlich von Delhi. Dort setzen wir als erstes Richa ab. Sie wohnt in einem pompösen Haus mitten in der Stadt in einer kleinen Seitenstraße. Vom Balkon oben lassen sie eine Bombe mit vielen bunten Papierschnipseln platzen, die nun über unseren Köpfen zur Erde regnen. Die kleine Urgroßmutter umarmt uns alle innig. Überglücklich schaut sie zu Martin hinauf während sie ihn fest umklammert. Selbst im Haus hört sie nicht auf mir über den Rücken zu fahren. Martin und ich begrüßen und verabschieden uns mit dem formellen „Namasté“ (Handflächen vor der Brust zusammen legen und Kopf neigen). Er neigt seinen Kopf besonders tief, um sehr großen Respekt Ausdruck zu geben. Richas Klassenkameraden gehen noch einen Schritt weiter. Sie deuten an mit der Hand die Füße der Person berühren zu wollen. Die Gastgeber halten sie aber davon ab sich weiter nach unten zu beugen. Anschließend führen sie die Hand zur Stirn oder Brust.

Nach einem halben Jahr kann Richa endlich wieder ihre Familie in die Arme schließen. In einem luxeriös eingerichteten Zimmer sollen wir Platz nehmen. Die Tafel wird mit Torte, Keksen, Samosa, Cola und anderen Kleinigkeiten gedeckt. Die gesamte Großfamilie steht um uns herum und schaut uns beim Essen zu. Alle sprechen Hindi, Fotos werden geschossen. Richas Schwester kommt auf mich zu und erzählt mir etwas in Hindi. Als ich ihr zu verstehen gebe, dass ich nur Englisch spreche, ist sie erstaunt. Anschließend fordert sie in gutem Englisch ein Versprechen von mir, dass wir wieder kommen sollen.
Bei Swatis Haus das Selbe noch einmal: Nur das Haus ist beengter und die Familie kleiner. Beim Essen kapituliere ich. Nachdem ich Martin versichert habe, dass ich ihn auch dick nehme, zwingt er es sich aus seiner unendlichen Höflichkeit herunter. Zum Abschied überreicht mir die Mutter 250 Rupien. Ich kam mir unheimlich schlecht vor, aber ablehnen hätte bestimmt die Familienehre beschädigt oder so. Sie versicherte mir, dass sei hier so üblich – komische Tradition. Eine wildfremde Familie 10 Minuten besuchen, Essen abfassen und dafür noch Geld kassieren. Dabei dachte ich Geldgeschenke seien in Indien verpönt.

Dannach setzen wir noch Rakesh ab und dann geht’s endlich zur Endstation des heutigen Tages: Ankurs Zuhause in Kurukshetra. Die Stadt liegt etwa 160 Kilometer nördlich von Delhi und 39 Kilometer nördlich von Karnal.

Zur Begrüßung umarmen uns der Vater und der Großvater herzlich. Das zerüttelte ein wenig mein indisches Weltbild. Sonst geben mir indische Männer oft nicht einmal die Hand. Die Frauen halten sich sehr stark im Hintergrund. Die Familie ist mir gleich sehr sympathisch. Außerdem sprechen sie perfekt Englisch. Spätestens als wir nach der Bedeutung der unzähligen Trophäen fragen, wissen wir, dass wir Gäste einer sehr intellektuellen Familie sind. Es sind alles Literaturpreise des Großvaters. Er hat über 100 Bücher in der Punjabi-Sprache geschrieben.

Yuvaraju, Martin, Ankurs Vater und ich

Mittlerweile ist es nach 10, aber der Tisch wird schon wieder mit warmen Mahlzeiten gedeckt. Viele indische Speisen werde ich in Deutschland sehr vermissen. Die Frauen ‚verstecken‘ sich die ganze Zeit in der Küche. Die Männer bedienen uns. Beim Abräumen zu helfen, wird uns strengstens verboten.

Mitternacht gehen wir endlich aufs Zimmer. Eine große Eidechse begrüßt uns dort. Die Inder finden das nicht schlimm mit denen in einem Zimmer zu schlafen. Sie fressen ja Insekten und Mücken. Martin begibt sich auf eine schweißtreibende Jagd, aber außer einem Stückchen Schwanz erbeutet er nichts. Ich entdecke ein noch größeres Problem: Es gibt keine Dusche. Am liebsten würde ich sofort in ein Hotel gehen. Ein klein bisschen ‚Luxus‘ habe ich mir nach der ‚Zugfahrt des Grauens‘ doch verdient. Notgedrungen versuche ich es mit einem Eimer Wasser.

Ausblick auf die typisch indischen Hausdächer, die als Terassen genutzt werden

Früh am nächsten Morgen bringt uns der liebe Großvater die indische Ideologie näher: Du tust etwas, weil Gott es so will. Genauso ist es, wenn er ein Buch schreibt. Wenn viele es lesen, dann weil Gott es so gewollt hat. Er erzählte von Gandhi, vom Karma und vom Licht in uns. Mit der großen historischen Bedeutung des Ortes Kurukshetra endet er. 

Mit Ankurs Familie


Danach besuchen wir Ankurs Schule, die Uni, das Büro des Vaters und ein Museum. Yuvaraju und Ankur sind beide durch Einfluss bzw. Willen der Väter in den Printbereich gekommen. Die erste Zeitschrift, die Ankurs Vater damals gemacht hat, hieß „Ankur“ (die Pflanze sprießt). Er beschloss, dass sein erstes Kind so heißen sollte – egal ob es ein Junge oder Mädchen sei.
Bei dem ganzen Aufwand und die Zeit, die sie sich für uns nehmen, denke ich daran, wie es wird, wenn Martins Klassenkameraden nach Deutschland kommen. Dann müssen wir Deutschen uns schon ein bisschen mehr anstrengen, Stichwort: Gastfreundschaft.







Mittwoch, 15. Juni 2011

42/ Nordindienreise – Zugfahrt der Qualen

Eine Reise ins ferne Nordindien war schon lange unser Ziel. Einige von Martins Klassenkameraden stammen von dort und fragten uns, ob wir Interesse an einer kleinen Rundreise hätten. Sofort sagten wir „ja“, denn mit befreundeten Indern durch das Land zu reisen, ist äußerst vorteilhaft.
Auf meiner Arbeit habe ich nur die Sonntage frei und kann gerade mal einen Tag Urlaub im Monat nehmen. Für eine Nordindienreise viel zu wenig Zeit – deswegen verzichte ich auf mein Gehalt und fahre.

„Die schlimmste Fahrt meines Lebens“ - und der Satz stammt nicht mal von mir, sondern von Kushveen.
Nachts 23.25 Uhr geht es los. Wir haben extra einen Monat vorher die Tickets für ein klimatisiertes Abteil im Wert von 3.240 Rupien bestellt. Im Zug erfahren wir, dass unsere Tickets nicht bestätigt sind und wir auf der Warteliste sind bis Plätze frei werden. Zwei Stunden lang stehen wir mitten in der Nacht zwischen zwei Abteilen. Unsere indischen Freunde versuchen immer wieder mit dem Schaffner zu diskutieren. Vor Goa könne er keine Aussage treffen – das ist 5 Stunden entfernt. Die Stimmung ist auf dem Boden. Martin und ich können nicht verstehen, dass man hier für etwas bezahlt, was man nicht bekommt. 

Schließlich wechseln wir in die völlig überfüllte stickige 3. Klasse. Alles schläft. Martins Klassenkameraden machen es sich auf dem Boden ‚bequem‘. Wir zwängen uns auf ein freies kleines Stückchen harte Kante der Liegen. Hinter mir liegt eine alte Frau, die immer wieder mit den Füßen gegen mich strampelt. Hier kann ich nie und nimmer schlafen. Martin ergibt sich seinem Schicksal und macht es den Indern nach. Er legt sich auf den ekligen indischen Zugboden und versucht zu schlafen. Dabei muss er verschiedenste Gerüche ertragen, wie nackte indische Füße, die immer wieder an/auf ihm vorbei laufen auf ihrem Weg zum ‚Klo‘. Das ist nicht mehr menschenwürdig. Hilflos lassen wir es über uns ergehen. Auch ich versuche zu schlafen. Meist nur für 5-10 Minuten, dann ist mir in meiner extrem unbequemen Sitzposition wieder irgendein Körperteil eingeschlafen, das mich weckt. Ein Teufelskreis. Später in der Nacht bietet mir ein älterer Mann seinen Platz an. Dankbar nehme ich an. Den muss ich mir allerdings mit der fülligen Swati teilen. Wieder gelingt es mir nicht sonderlich im wackelnden Zug zu schlafen. So bekomme ich mit, dass er 2 Stunden lang nicht weiter fährt. Nervenzerreißend, wenn man einfach nur ankommen und hier raus will.
 

Um 6 Uhr kommen wir in Madgoan, Goa an. Die Nacht ist zu Ende – alle wachen oder stehen auf. Nicht immer freiwillig, aber der Boden muss ja wieder begehbar werden. Es folgt eine lautstarke Diskussion zwischen einer Frau, die wahrscheinlich bei so vielen platzlosen Menschen ihre Familie bedroht sieht und anderen, die einfach nur irgendwo sitzen möchten. Ein lauter, dumpfer Aufprall unterbricht sie. Ein Kind ist aus der obersten Liege in mehr als 2 Meter Höhe schlafend herunter gefallen.
Gegen 7 bekomme ich oben eine Liege und endlich die Möglichkeit zum Schlafen. Männer, die laut „Chai“ anbieten und Tunnel, durch die wir geräuschvoll durchbrettern, unterbrechen meine zwei Stunden Schlaf. Bei mir oben funktionieren die Ventilatoren nicht und die Sonne prasselt schon früh um 9 unablässig auf das Zugdach.
Im Umkreis des Klos stinkt es bestialisch, besonders an jedem Bahnhof, da der Hinweis nur während der Fahrt das Loch zu benutzen, gekonnt ignoriert wird. Nach dem Gang aufs ‚Klo‘ stelle ich fest, dass diese Nacht-Tag-Kombination wieder einen anderen Tag in Indien vom ersten Platz des schlimmsten Tages meines Lebens verdrängt hat. Jetzt heißt es einfach nur noch durchhalten, überleben bzw. dahin vegetieren. Durch die glühende Hitze, die schlechte Luft und das eng an eng mit vielen Indern bin ich nicht in der Lage irgendetwas zu tun. Meist verkrieche ich mich oben auf die Liege. Martin hat sich mein Buch „PS. I love you“ geschnappt in Anbetracht fehlender lukrativer Alternativen. 

 

Eine neue Info von unseren indischen Freunden - sie sitzen irgendwo im Zug verteilt: Wir sollen noch bis um 2 aushalten. Denn Mumbai ist unsere Hoffnung, da hoffentlich viele aussteigen. Die Hoffnung war umsonst. Gegen Abend erfahren wir endgültig, dass wir keine Chance haben in das Abteil mit Klimaanlage zu kommen. Zumindest bekommen wir in der dritten Klasse Plätze zum Schlafen zugeteilt. Ich versuche am Laptop einen Film zu schauen, aber die Zuggeräusche sind zu laut, um etwas zu verstehen. Obwohl ich ganz oben liege, hatten sich einige indische Zuschauer zum Mitgucken versammelt. Inder scheinen vom Fernsehen magisch angezogen zu werden.

Relativ früh ist dann Schlafenszeit und die Lichter gehen aus. In der Nacht wache ich auf. Der Zug fährt rasend schnell und rattert über Brücken hinweg. Gedanklich male ich mir schon diverse Unfallszenarien aus.

Den nächsten Tag versuche ich wieder mit viel Schlafen zu überstehen. Ich esse und trinke so wenig wie möglich, um nicht noch mal auf das Klo zu müssen. Das Leben im Zug – eine indische Reality Show live: Familien bereiten auf Zeitungspapier Essenshäufchen. Mülleimer gibt es nicht. Die Abfälle werden entweder direkt aus dem Fenster oder auf den Boden geworfen. Ein kleines indisches Kind guckt mich fasziniert an, einem anderen werden gerade die Fingernägel geschnitten.

Endlich bekommen wir einen Platz am luftigen Fenster. Der Blick hinaus verrät – die Landschaften in Nordindien scheinen karger zu sein. Das saftige Grün der Südwestküste fehlt. Umso näher wir unserem Ziel Delhi kommen, desto mehr Armut beobachten wir am Rande der Schienen. Immer wieder laufen Bettler durch die Zugabteile. Ein Kind mit kaputten glasig blau-weißen Auge erinnert mich an den Film ‚Slumdog Millionaire‘. Eine alte Frau ist besonders stur. Vom Bahnhof draußen versucht sie uns durch die Gitterstäbe des Fensters zu berühren. Als Martin vorsichtig das Fenster schließen will, weicht sie mit ihrem Arm nicht zurück. Bei so vielen Bettlern gleicht es einer Belästigung. Mir lag schon auf der Zunge, dass wir nicht ganz Indien füttern können und dass in Deutschland auch viele arme Menschen leben.



Bei soviel Leben, ist der Tod nicht weit. Ein vertrockneter Kuhkadaver liegt am Straßenrand und ein Hund auf den Gleisen – der abgetrennte Kopf auf der anderen Seite der Schiene.

Nach 41 Stunden Zugfahrt und ca. 2.500 km kommen wir in Delhi an – genauer gesagt im Stadtteil Hazrat Nizamuddin. Die Metropole Delhi schließt mit Neu-Delhi die indische Hauptstadt ein. Mit 12,6 Millionen Einwohnern in der eigentlichen Stadt und 18,7 Millionen im Hauptstadtterritorium ist Delhi nach Mumbai die zweitgrößte Stadt Indiens.
Der wärmste Monat ist hier der Juni – passt ja gut. Wir schlagen uns also bei um die 40° durch.




Am Bahnhof in Delhi