Samstag, 25. Juni 2011

45/ Nordindienreise – Katastrophentag in Delhi

Im Nachtbus starten wir 23.15 Uhr von Amritsar nach Delhi. Martin und ich teilen uns eine enge, harte Liege. Fenster in Bussen lassen sich allgemein sau schlecht bewegen. So begleitet uns im ruckligen Bus ein windiger Durchzug, der unsere Vorhänge flattern und genug Einsicht für neugierige Blicke lässt. In den Morgenstunden finden wir endlich etwas Schlaf.

Ein Monstrum auf Indiens Straßen

7.15 Uhr werden wir unsanft am Busbahnhof in Alt-Delhi geweckt. An der überfüllten Metrostation stehen wir in einer der ellenlangen Schlangen für Tickets an. Neben dem nervigen Angestarre gibt es immer mal wieder nette Begegnungen mit Menschen. Ein kleines Mädchen schaut zu mir hoch und gibt mir die Hand. Dann fragt sie höflich nach meinem und Martins Namen. Ihr Vater im Hintergrund hilft ihr bei der richtigen englischen Fragestellung. Sie möchte wissen, woher wir kommen und wie wir Indien finden. Der Vater übersetzt ihr unsere Antworten.

Runde, blaue Chips verschaffen uns Zugang zur Metro. Die Securitys lassen uns in zwei Schlangen rechts und links von der Tür artig anstehen. Die Metro ist sehr neu, sauber und leise. Während der Fahrt haben wir einen ausgezeichneten Blick auf Delhi. Das ist also die Hauptstadt Indiens. Es gibt keine herausragenden großen Gebäude, nur unheimlich viele aneinander gereihte Häuser. Sie haben keine Dächer, sondern die typischen Terrassen. Das ist eine zusätzliche Etage, die in den engen Großstädten wunderbar vielfältig genutzt werden kann. Sie müssen ja keine Schneemassen von den Dächern entfernen.

In einer anderen Ecke in Delhi steigen wir aus. Ankur telefoniert. Als er zurück kommt, macht er ein sehr ernstes Gesicht. Nur langsam lässt er sich die Informationen aus der Nase ziehen. Wir sollen Delhi so schnell wie möglich verlassen und unser geplanter Trip für heute nach Agra sei viel zu gefährlich. Am besten wäre, wir nehmen gleich einen Flug zurück nach Manipal. Wir können nicht glauben, dass unsere Nordindienreise so schnell schon wieder vorbei sein soll. Unvorstellbar, dass wir Indien verlassen müssen ohne das Taj Mahal in Agra gesehen zu haben.
Wir fragen nach den Gründen. Er hat mit seinen Eltern telefoniert und sie haben es aus dem Fernsehen. Am gestrigen Samstag sollen in Delhi ein Guru und seine Anhänger in den Hungerstreik getreten sein, um gegen die weit verbreitete Korruption im Lande und vor allem auf hoher politischer Ebene zu protestieren. Ein Ziel ist, dass die Politiker, dass indische Geld u.a. von der Schweizer Bank wieder ins Land bringen. Die Protestaktion sei ausgeartet, es hätte ein Feuer gegeben. Alle, die nicht aus Delhi sind, sollen das Gebiet verlassen. Selbst die Fahrt nach Agra sei viel zu gefährlich. Wir könnten angehalten und festgenommen werden oder so ähnlich. Ankurs Eltern jedenfalls haben ihrem 23-jährigen Sohn verboten dort hinzufahren. Er soll nach Hause kommen.

Wir sind zwar verunsichert, aber können das Ganze noch nicht recht glauben. Jedenfalls sieht an der Metrostation nichts nach einer Massenhysterie aus. Niemand, der auf uns zukommt, um uns zu warnen und bittet die Stadt zu verlassen. Ich will mir das lieber offiziell bestätigen lassen - von einem Polizisten oder am besten die ganze Sache im Internet recherchieren. Sie können doch nicht alle Fremden aus der Stadt evakuieren. So leicht wollen wir das Taj Mahal nicht aufgeben. Aber selbst Yuvaraju will nicht mehr mitkommen, wenn es gefährlich sei. Ankur schlug vor seinen bekannten Taxifahrer zu befragen. Er kenne die Situation auf den Straßen und könne uns klar machen wie gefährlich es ist. Wir warten ewig, hungrig und müde auf den guten Mann. Aus fünf Minuten werden ganz schnell mal über 30 hier.

Am liebsten will ich sofort nach Deutschland zurück. Wenn man denkt es kann nicht mehr schlimmer kommen in diesem Urlaub, in Indien schaffen sie es immer. Und außerdem war es bis jetzt eher Quälerei als Urlaub gewesen. Das Schönste bisher war wirklich das nordindische Essen gewesen.

Schließlich wurden wir in ein kleines Reisebüro von Ankurs Bekannten gefahren. Dort warten wir wieder auf Einen, der uns über die Sicherheitslage in Delhi informieren soll. So ernst scheint es nicht zu sein. Immerhin sind wir jetzt schon Stunden in der Hauptstadt. Alles wirkt friedlich verschlafen zum Sonntag. Als der besagte Typ endlich da ist, googelt er erst mal, was eigentlich Sache ist. Es wurden scheinbar 24 Stunden Ruhe in Delhi verordnet – schwer vorstellbar in einer Millionenstadt. Sie bieten uns an am nächsten Morgen um 5 Uhr nach Agra zu fahren. Hab ich es mir doch gedacht, alles halb so wild.

Also bleiben wir heute in Delhi. Angeblich wäre das billigste Hotel hier nur für 1.800 Rupien zu haben. Das nächste Problem waren unsere Rückfahrttickets. Diesmal wollen wir unbedingt welche im Klimaanlagenabteil. Aber zum Sonntag wäre es schwierig da ran zu kommen und überhaupt gebe es nur noch welche auf der Warteliste. Wir sollen aber mal zum Bahnhof fahren, da gäbe es einen extra Schalter für Leute wie uns. Inder müssten dort einen Tag Schlange stehen. Ich sage doch, die indische Bahn ist die schlimmste, chaotischste Null-Service-Firma, die ich je erlebt habe. Da lobe ich mir die Deutsche Bahn.
So, wir wollen also mit der Metro zum Hauptbahnhof fahren. An der Kasse zur Metro stehen mal wieder riesige Menschenmassen. Es würde zwei Stunden dauern, um ein Ticket zu bekommen und der Schalter am Bahnhof soll nur noch bis um 2 Uhr aufhaben. Uns bleibt genau eine ¾ Stunde Zeit. In der Woche soll es hier noch schlimmer sein – will ich mir lieber nicht vorstellen.

Entnervt sprinten wir wieder raus aus der Metrostation. Auf einmal rennt mir ein kleines zerzaustes Mädchen hinterher und schreit laut: „Hey Baby!“ Sie krallt sich an meinem Oberteil fest und ich kann ihre Hand einfach nicht von meiner Kleidung lösen. Martin reißt sie dann mit Gewalt los.

Mit zwei Rikshas sausen wir eilig durch die Stadt. Obwohl der Zähler 110 Rupien anzeigt, müssen wir die vereinbarten 200 Rupien pro Riksha bezahlen. Dann landen wir erschöpft in einer „Touristeninformation“. Der Mann am Schreibtisch ist sehr nett und sagt sogar „Guten Tag.“, als er hört, dass wir Deutsche sind. Ich denke: Hier bin ich richtig! Endlich jemand Kompetentes, der uns helfen kann. Von gefährlichen Ausschreitungen in Delhi weiß er übrigens nichts. Neugierig erkundigt er sich, ob wir ein Paar wären oder verheiratet sind. Dann fängt er an von Jaipur zu schwärmen und dass das der romantischste Ort in Indien sei. Etwas komisch kommt mir vor, dass er uns ziemlich viel ausfragt: Wo seit ihr hier bisher gewesen? Wie viel bezahlt ihr denn für die morgige Fahrt nach Agra? Dabei wollen wir eigentlich nur, dass er uns ein gutes billiges Hotel vorschlägt und uns die Zugtickets besorgt.
Dann kommt die Schreckensnachricht: Die ganze Woche gibt es ab Delhi für alle Klassen nur noch Tickets auf der Warteliste – nein danke, dass hatten wir schon mal auf der Hinfahrt. Es sei ja jetzt Ferienzeit und die Familien fahren von einer Ecke Indiens in die andere. Wir sind extrem enttäuscht; hatte uns Ankur doch versprochen, dass wir wenigstens auf der Rückfahrt bestätigte AC-Tickets (AC = air conditioner = Klimaanlage) bekommen werden. Jetzt erfahren wir, dass wir 3 Monate vorher bestellen müssten und dass die Tickets dann für ca. 3 Stunden verfügbar sind. Tja, bei 1,2 Milliarden Menschen hat es die indische Bahn nicht im Geringsten nötig kundenorientiert zu arbeiten.
Ganz der gerissene Verkäufer bietet der Mann uns nach dieser niederschmetternden Information bestätigte AC-Tickets für über 4.000 Rupien an. Dann unterbreitet er uns ein Reisepaket für 32.000 Rupien. Enthalten wären die Tour Delhi, Agra, Jaipur sowie die Zugtickets. Ich falle bald vom Stuhl und sage: „Es wäre schön, wenn Sie uns helfen könnten und nicht versuchen nur etwas zu verkaufen.“.
Den ganzen Tag machen wir nichts anderes als zu warten und versuchen Informationen zu bekommen. Ich erkundige mich nach einem Heimflug. Ich lasse mir doch nicht das Geld aus der Tasche ziehen. Aber wir sitzen hier fest, wie müssen das Geld investieren. Selbst ein Flug nach Bangalore ist unbezahlbar teuer und Martin redet mir eine kleine spontane Überreaktion nach Deutschland zurück zu fliegen schnell wieder aus. Als ich verlauten lasse, dass wir ja gleich nach Hause schwimmen können, bietet er uns ein Paket ohne Jaipur an. Er fragt nach unserem Budget und schließlich landen wir bei 14.000 Rupien. Darin enthalten sind zwei Nächte in Delhi, ein AC Bus nach Agra mit Übernachtung und die Zugtickets. Er versichert uns, dass wir ab jetzt unseren Urlaub genießen könnten und sie alles für uns regeln … .

Ankur verabschiedet sich von uns. Yuvaraju geht noch etwas mit uns essen (sein erstes am heutigen Tage). Er kann uns leider nicht mehr begleiten, da das Paket zu teuer für ihn ist. Mit dem Zug fährt er nach Agra, schaut sich das Taj Mahal im Dunkeln an und anschließend geht's für ihn nach Hause nach Bangalore.

In unserem Hotelzimmer funktionieren weder Wasserhahn, noch Dusche oder Klospülung richtig. Wir fallen todmüde ins Bett und selbst nach 12 Stunden Schlaf könnten wir noch weiter schlummern.


Ach übrigens, ich habe jetzt mal in den deutschen Medien nach dem Ereignis in Delhi recherchiert.




Nach acht Tagen brach Swami Baba Ramdev den Hungerstreik ab. 




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